Imam al-Ghazali über Aqidah und Kalam (7. Teil)

Fortsetzung des 6. Teils dieser Reihe.

Sodann …

 

Was vielmehr die Geheimnisse betrifft, deren Erkenntnis den Mukarrabun (Nahgestellten) im Unterschied von den meisten anderen ausschliesslich vorbehalten ist und die sie nicht mitteilen dürfen, so lassen sich im ganzen fünf Fälle unterscheiden:

1. Die Sache ist in sich so subtil, dass der Verstand der meisten unfähig ist, sie zu begreifen. Diese aber dürfen sie den Unfähigen nicht mitteilen, damit es ihnen wegen ihrer beschränkten Auffassungsgabe nicht zur Versuchung werde. Hierher gehört über die Tatsache, dass der Prophet sich nicht darauf eingelassen hat, über das Wesen des Geistes (der Seele, arabisch : Ruh) eine Erklärung abzugeben (vgl. Sure 17/87); denn sein Wesen zu erfassen und sich vorzustellen sind die Verstandeskräfte unfähig. Du darfst aber nicht meinen, sein Wesen sei auch dem Propheten verborgen geblieben. Denn wer den Geist (Seele) nicht erkennt, ist, als ob er sich selbst nicht erkennte, wie kann er da seinen Herrn erkennen ?

Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es auch einigen Heiligen und (islamischen Religions-) Gelehrten enthüllt worden sei, wenn sie auch keine Propheten waren. Aber sie befolgten dann die Regeln der Offenbarung und verschwiegen das, was er verschwiegen hatte. Auch was die Eigenschaften Allahs anlangt, so gibt es darin Verborgenheiten, welche der Verstand der Menge zu schwach ist, zu fassen. Davon hat der Prophet nur das ihrem Verstand Einleuchtende mitgeteilt, wie Wissen, Macht usw., damit es die Menschen durch eine Art Analogie begreifen. Denn da sie selbst Eigenschaften besitzen, die Wissen und Kraft heissen, so können sie darnach die göttlichen sich vorstellen.

Würde von Allah eine Eigenschaft mitgeteilt, wovon die Menschen bei sich keine Analogie zu Gebote stünde, so würden sie dieselbe nicht verstehen. Sic puer vel impotens delectationem coitus non cognoscit nisi ex analogia delectationis cibi, qum novit. Aber ein eigentliches Verstehen ist das nicht. Nun ist aber der Unterschied zwischen dem Wissen und der Macht Allahs und der des Menschen grösser als der inter delectationem coitus et cibi. Überhaupt erkennt der Mensch nur sich selbst und seine eigenen Zustände, wie sie ihm augenblicklich gegenwärtig sind oder wie er sie früher einmal gehabt hat.

Auf Grund der Vergleichung sagt er sich dann, dass es bei anderen ebenso ist. Dann urteilt er, dass zwischen beiden ein Unterschied besteht. Der Mensch kann also von Allah nichts anderes aussagen, als was er von sich selbst aussagt, nämlich dem Urteil, dass sie bei Allah eigenen Hoheit vorzudringen. deshalb sagt der Prophet :

„Ich vermag nicht, dich zu loben, wie du dich selbst lobst.“

Damit meint er nicht: Ich bin nicht imstande, auszudrücken, was ich erkannt habe, sondern es ist das Eingeständnis seiner Unfähigkeit, das Wesen der göttlichen Majestät zu begreifen. Deshalb sagt jemand : „Niemand kennt Allah in Wahrheit, als Allah der Allerhöchste.“ Und der selige Abu Bakr, der Gerechte, sagt:

„Gelobt sei Allah, der den Geschöpfen keinen anderen Weg gegeben hat, ihn zu erkennen, als vermittels der Unzulänglichkeit , ihn zu erkennen.“

Doch lassen wir diese Untersuchung und kehren wir zu unserem Gegenstand zurück. Wir sagten also, dass es erstens Objekte gibt, die zu erkennen der Verstand unfähig ist. Zu ihnen gehört der Geist (Seele, arabisch:“Ruh“) und gewisse Eigenschaften Allahs. Darauf deutet vielleicht der Ausspruch des Propheten hin :

„Allah hat siebzig Schleier von Licht; wenn er sie wegzöge, so würde die Hoheit seines Antlitzes jeden verbrennen, auf den sein Blick fällt.“

2. Bei der zweiten Klasse von Geheimnissen, welche die Propheten und Gerechten nicht mitteilen dürfen, handelt es sich um Dinge, die in sich begreiflich sind, also die Fassungskraft nicht übersteigen, aber ihre Mitteilung würde den meisten, die sie vernehmen, Schaden bringen, während sie den Propheten und Gerechten nicht schaden. Dahin gehört das Geheimnis der Prädesnation, welches die Wissenden nicht (im Ganzen) verraten dürfen.

Dass die Mitteilung gewisser Wahrheiten manchen Menschen schadet so wie das Sonnenlicht den Augen der Fledermäuse oder der Rosenduft dem Mistkäfer, darf nicht befremden. Man bedenke doch nur, dass nach unserer Überzeugung Unglaube, Unzucht sowie die Sünde und das Übel überhaupt von Allah bestimmt sind, Sein Wille aber sich Selbst Gesetz ist. Diese Sätze haben in der Tat schon manchen, die sie hörten, geschadet und sie zur Meinung verführt, solches sei Irreleitung, widerspreche der Weisheit und enthalte eine Billigung des Bösen und der Ungerechtigkeit.

Auch Ibn al-Rawendi und andere Unglückselige sind infolge davon in Häresie verfallen. So würde das Geheimnis der Prädestination, wenn es verraten würde, bei den meisten Menschen die Vorstellung einer Unvollkommenheit auf Seiten Allahs wachrufen, da ihr Verstand zu beschränkt ist, um das, was diese falsche Vorstellung beseitigen, zu begreifen.

Ein anderes Beispiel: Würde der Zeitpunkt der Auferstehung geoffenbart, dass sie etwa nach tausend Jahren oder früher oder später stattfinden werde, so wäre das gewiss zu verstehen, aber zum Wohl der Menschen und wegen des zu befürchtenden Schadens geschah das nicht. Denn es handelt sich entweder um einen langen Zeitraum und der Termin ist noch weit entfernt; dann dächten die Menschen, die Strafe lässt noch lange auf sich warten und würden nur wenig sich zusammennehmen. Oder sie wäre nach Allahs Wissen nahe bevorstehend, dann entstünde durch die Mitteilung davon eine gewaltige Furcht, die Menschen liessen alle Arbeit liegen und die Welt würde zu einer Wüste werden. Das ist wohl ein zutreffendes Beispiel für diese zweite Klasse.

3. Eine Sache kann, wenn sie mitgeteilt würde, dem Verständnis klar sein, es braucht auch darin kein Schaden zu liegen, aber sie enthält eine uneigentliche Redeweise, eine Metapher und Anspielung, damit der Eindruck auf den Zuhörer nachhaltiger sei, wobei es im Interesse des letzteren liegt, dass er recht stark sei. Wenn z.B. jemand sagt: Ich sah den und den der Sau Perlen umhängen, so meint er damit: der Betreffende hat sein Wissen und seine Weisheit an einen Unwürdigen verschwendet. Hier versteht jeder, der das hört, sogleich den Wortsinn. Ein Kundiger aber braucht nur hinzusehen und zu bemerken, dass der Betreffende gar keine Perlen bei sich hat und kein Schwein dort ist, so versteht er den eigentlichen tieferen Sinn. Darin zeigt sich der Unterschied zwischen den einzelnen Menschen.

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